Ein Bericht vom 13th ISA World Congress „Embrace Your Stutter“ in Hveragerði auf Island Ende Juni 2019.

Gegen Ende der Flow-Zukunftswerkstatt in Heidelberg dieses Jahr fragte mich Martin Seefeld, ob ich mit ihm auf den Stotter-Weltkongress Ende Juni 2019 nach Island mitfahren wolle. Sofort war ich Feuer und Flamme für dieses Projekt. Wir hatten zwar nicht explizit darüber geredet, aber nachdem ich schon viele Bundeskongresse in Deutschland fotografiert hatte, konnte ich davon ausgehen, dass er sich freuen würde, wenn ich meine Kamera mitnehmen würde. Außerdem ist Island allseits als weltweit einmaliger Flecken (Vulkan-)Erde mit weltbekannten Motiven bekannt. Und nachdem Naturfotografie eines meiner Steckenpferde ist, hatte ich im Kopf natürlich meine Foto-Ausrüstung bereits zusammengestellt, bevor ich ihm endgültig zusagen konnte.

Danach musste ich meine Kongressteilnahme mit insgesamt drei Flügen, allerlei zum Teil öffentlichen Bus-Transfers,Übernachtungen und Mietwagen organisieren – auch für die geplante, private Island-Rundreise nach der Kongresszeit. Nachdem das alles in trockenen Tüchern war, konnte ich meinem ersten Welt-Stotter-Kongress entgegenfiebern. Schon allein der Flug nach Island war für mich ein Erlebnis, denn trotz der späten Stunde wurde es nicht etwa dunkler, sondern wegen der ‚Mitternachtssonne‘ immer heller. Island liegt ja wenige hundert Kilometer südlich des Polarkreises, und somit geht die Sonne im Sommer nur ganz kurz unter, und verschwindet dann auch nicht wirklich tief unter dem Horizont. Auf dem Flug mit IcelandAir kam ich zum ersten Mal in Kontakt mit der gesprochenen isländischen Sprache, nämlich mit den Durchsagen im Flugzeug, die zuerst auf Isländisch und dann auf Englisch erfolgten. Das Isländische hört sich schön und nordisch an – aber man versteht nichts, nicht einmal, worum es im Groben geht. Die Isländer [ich möchte in meinem Bericht nicht besonders gendern – der Leser/die Leserin/das Leser möge bitte vom Genus des Nomens nicht unmittelbar auf das Geschlecht der damit beschriebenen realen Person oder Personengruppe schließen!] sprechen, aber im Allgemeinen ein deutliches (und sehr langsames) Englisch, sodass eigentlich nie echte Verständigungsprobleme aufkommen.

Am ersten offiziellen Treffpunkt, dem weltberühmten Konzertgebäude Harpa in Reykjavík, traf unsere kleine Reisegruppe dann zum ersten Mal zusammen: die vier Deutschen rund um Martin, vier junge Wilde aus ‚Deutsch-Südwest‘ (Baden-Württemberg und Bayern). Schon vor und im Kongress-Bus kamen wir mit vielen interessanten Menschen in Kontakt – meist auf Englisch, der Sprache des Kongresses. Ich spreche zwar seit der fünften Klasse auch (Schul-)Englisch, aber diese Sprache hat mich als Stotterer nie geliebt – das beruht wohl auf Gegenseitigkeit, hat sich aber auch durch den Weltkongress verbessert. In unserer kleinen deutsche Truppe haben wir auch oft unter uns auf Englisch kommuniziert, denn ‚practice makes the master‘.

Am Hotel Örk, dem Kongress-Hotel, angekommen, war meine Lernkurve ziemlich steil: Begriffe wie PWS oder SLT/SLP waren für mich als deutsches Regional-Landei neu und mussten erst einmal geklärt werden (PWS: person who stutters = Betroffener; SLT/SLP: speech and language therapist/pathologist = Sprech-Therapeut/Logopäde). Auf dem Eröffnungsabend war ich baff, dass der Isländische Staatspräsident Guðni Th. Jóhannesson persönlich den Kongress eröffnet hat – er kam ohne Polizeischutz und erzählte im lockeren Stil von sich, dass er selbst einmal in logopädischer Behandlung gewesen war, weil er früher Probleme hatte, das R zu rollen – ein Laut, ohne den Isländisch einfach nicht funktioniere. Danach posierte er mit Kongressteilnehmern für Selfies und gab z.B. auf Fußball-T-Shirts Autogramme. Das war echt ein Erlebnis für mich; das wäre ja praktisch so, als wenn auf dem Bundeskongress 2003 in Würzburg nicht nur der Dritte Bürgermeister angetanzt gekommen wäre, sondern der damalige Bundespräsident Johannes Rau persönlich! Der Welt-Kongress erhielt in den isländischen Medien große Aufmerksamkeit, so konnte ich mit meiner Kamera dokumentieren, wie Jóhanna Einarsdóttir, Professorin für ‚Early Childhood Education‘ an der University of Iceland, ein Live-Radio-Interview und gleich danach ein Fernseh-Interview gab, welches dann in der ‚isländischen Tagesschau‘ noch am gleichen Tag gesendet werden sollte.

Am Kongress übernahm ich die Rolle des wandelnden Kongress-Fotografen und hatte den Ehrgeiz, alle Veranstaltungen während der fünf Kongresstage mit meiner Kamera zu dokumentieren: von den Fachvorträgen, Diskussionsrunden, Open-Mikes (fast jeden Tag eines) und Filmbesprechungen bis hin zum Rahmenprogramm wie der Golden Circle Tour, der Höhlenfahrt und dem Gala-Dinner in einem echten Wikinger-Langhaus und und und. Die Golden Circle Tour, eine touristische Bustour zu einigen der bekanntesten Sehenswürdigkeiten Islands, belegte den kompletten Dienstag, den dritten Kongresstag, und stand für alle Teilnehmer gleichermaßen verpflichtend auf dem Programm. Während der Bus-Fahrt mit den drei großen Touri-Bussen, und an den besuchten Stätten hatten wir Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Ach ja, an den Fotos sitze ich jetzt noch… Nur gut, dass ich Martin direkt nach dem Welt-Kongress meine Zweit-SD-Karte mit nach Deutschland geben konnte, und er dankenswerterweise schon die erste kleine Auswahl an Bildern an das isländische Kongress-Team übermittelt hat. Danke, Martin für Deine aktive Mithilfe und Danke Arni (sprich: ‚Arðni‘) für Deine sagenhafte Geduld! Die Höhlenfahrt und das Wikinger-Abendessen waren mein gewählter Teil des Wahl-Programm-Angebotes. Allein über die Höhlenfahrt (Besuch einer menschengemachten Sandstein-Wohnhöhle und Wanderung in einer natürliche Lava-Röhre, echt krass!) zu berichten, würde diesen Bericht bei Weitem sprengen. Das Gala-Dinner im Wikinger-Langhaus war dann doch ein echter Höhepunkt des Kongresses! Es war schön zu sehen, wie die Kongressteilnehmer zusammenwuchsen und die Stimmung echt super war.

An einem freien Abend gingen ein Teil unserer kleinen Reisegruppe auf eine private Mitternachtssonnen-Wanderung zu den heißen Badequellen ca. eine gute Stunde nördlich von Hveragerði. Zwar war die Wanderung anstrengend aber bei ca. 12°C Außentemperatur und ordentlich Wind in einem ca. 40°C warmen Flüsschen zu sitzen und mitten in der Vulkanlandschaft zu marinieren, ist ein unvergessliches Erlebnis! Unterwegs trafen wir sogar einige Teilnehmer des Weltkongresses; ja, Hveragerði ist mit seinen ca. 2500 Einwohnern (immerhin Platz 20 der größten Städte Islands!) nicht gerade groß und auf dem Weltkongress waren wir ca. 160 Teilnehmer (auf den Buko in Köln 2019 umgerechnet, hätten es dort fast 70.000 Buko-Teilnehmer sein müssen)

Fachlich gesehen, war der Welt-Kongress für mich als überzeugten deutschen Selbsthilfe-Menschen stark – vielleicht zu stark – logopäden-/logopädie-lastig, was aber wohl an den ausrichtenden Organisationen lag: der ISA (International Stuttering Association). Hier liegt der Fokus eben nicht auf Selbsthilfe. Im Nachgang des Kongresses werde ich versuchen, noch ein paar Leute anzusprechen, um die gehörten Vorträge fachlich nachzubereiten und einzuordnen. So verstehe ich es bis jetzt nicht, warum man auf einem Welt-Kongress einen US-amerikanischen Neurologen einen Vortrag über die medikamentöse Behandlung des Stottern halten lässt!? Die ‚Pille gegen Stottern‘ ist nach allem, was ich darüber weiß, schon lange fachlich tot (gerne mit Quellennachweis). Aber viele Teilnehmer beklatschten diesen Vortrag und notierten sich sogar eifrig die angepriesenen Wirkstoffnamen! Diese fachliche Diskussion will ich ebenso wie das Bloggen über den Kongress auf dem Blog der SHG Würzburg führen – unter https://wuerzburg-stottert.de. Hier will ich auch im Nachgang die besten Welt-Kongress-Fotos 2019 veröffentlichen – wie beim Super-Buko in Köln 2018.

So war der Welt-Kongress für mich als Neuling eine spannende Zeit und ich konnte viele Kontakte knüpfen, z.B. nach Japan (Greetings to ?? Nana!), die USA (Hi, Jürgen!) und bis hin nach Indien (Greetings to Rajesh!). Island ist auch schon ohne einen Fachkongress eine Reise wert. So bedanke ich mich bei der tollen isländischen Gruppe (besonders bei Arni Birgisson), bei der ISA als ausrichtender Organisation und bei meiner kleinen Reisegruppe, dass sie es mit mir ausgehalten hat. Ich hätte nie gedacht, dass mich mein Stottern einmal in einen anderen Teil der Welt leitet, mich so viele neue Kontakte knüpfen lässt und so viel schönes erleben lässt – für mich definitiv ein Highlight! Mir bleibt nur zu hoffen, dass meine Fotos (und vielleicht auch mein lau(n/s)iger Bericht) mit dazu beitragen mögen, dass sich alle Teilnehmer mit Freude an den Welt-Kongress 2019 erinnern und dass alle Zuhausegebliebenen erahnen mögen, was sie da eigentlich alles verpasst haben.

Mit weiterhin unflüssigen Grüßen,
Mmmmmichael Braun

Eisingen bei Würzburg, 17.7.2019


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